International unterschiedliche Lernkulturen: Herausforderungen erkennen und Unterstützung bieten
Autorin: Gunda Achterhold (Oktober 2022)
Immer wieder diskutieren Hochschulvertreterinnen und Hochschulvertreter in GATE-Germany-Veranstaltungen über den Umgang mit Integrationsschwierigkeiten und Anpassungsproblemen internationaler Studierender in der Lern- und Campuskultur an deutschen Hochschulen. Ein Thema von zentraler Bedeutung ist das in Deutschland geforderte selbstständige Lernen und kritische Hinterfragen in der Lehre. In vielen Ländern der Welt ist dieses akademische Konzept zumindest im Bachelorstudium eher unbekannt, kritische Diskussionen auf Augenhöhe mit den Lehrenden können für Studierende aus dem Ausland deshalb teilweise schwer einzuordnen sein und sogar einschüchternd wirken.
“Wie anders die Verhältnisse an deutschen Hochschulen sind, wird internationalen Studierenden häufig erst bewusst, wenn sie bereits hier sind”, sagt Dr. Gundula Gwenn Hiller, Professorin für Beratungswissenschaften an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit in Mannheim (HdBA). Die eher diskursive Wissensvermittlung in deutschen Seminaren sei für Studierende aus den allermeisten Bildungssystemen der Welt ungewohnt und stelle klassische Rollenverteilungen von Lehrenden und Studierenden infrage. “Auch in west- und mitteleuropäischen Lernkulturen wie beispielsweise in Frankreich gehört es zur guten akademischen Praxis, von Lehrenden oder anderen Autoritäten vermitteltes Wissen möglichst genau reproduzieren zu können”, stellt die Expertin für Beratung, Kommunikation, Diversity und Zukunftskompetenzen fest.
Diese unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Erwartungshaltungen können im Lehr- und Prüfungsalltag zu Konflikten führen – die ausschließliche Wiedergabe auswendig gelernten Wissens stehe im schlimmsten Fall unter Plagiatsverdacht. “Wenn man sich vorstellt, jemand kommt aus einem ganz anderen Lernkontext an eine deutsche Hochschule, und dann steht da ein Dozent und erwartet ohne weitere Erklärung, eine eigene Fragestellung für eine Hausarbeit zu entwickeln und zu präsentieren – die Lücke zwischen den Lernkulturen ist riesig”, sagt Dr. Christina von Behr, Geschäftsführerin der Academy HERE AHEAD in Bremen. In enger Zusammenarbeit mit den International Offices aller Hochschulen in Bremen entwickelt und realisiert die Akademie vorbereitende Programme für internationale Studienbewerberinnen und -bewerber. Themen aus der akademischen Praxis wie wissenschaftliches Arbeiten, Präsentieren, Selbstorganisation oder Kommunikation mit Lehrenden sind neben der Sprachvermittlung ebenfalls Teil der Vorbereitung.
Eingewöhnung in die neue Lern- und Campuskultur
Eine Frage der Perspektive
Interkulturelle Unterschiede lassen sich oft besser verstehen, wenn man die Perspektive wechselt. Anregung dazu bietet eine Broschüre mit 30 Fallgeschichten, die Dr. Gundula Gwenn Hiller in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Studentenwerk auswertete und publizierte. Die Beispiele veranschaulichen, wie vertrackt und häufig schwer zu durchschauen interkulturelle Irritationen im Hochschulalltag sein können. Jede der beschriebenen Situationen aus der Kommunikation internationaler Studierender mit Studentenwerken und Hochschulverwaltung wird von mehreren Landsleuten kommentiert und eingeordnet. Dieser “multiple” Ansatz eröffnet verschiedene Betrachtungsweisen und sensibilisiert für Unterschiede. Zugleich vermittelt er, dass die Protagonisten keineswegs immer nur nach kulturell geprägten Mustern handeln, sondern eben durchaus auch individuell unterschiedlich.
Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erwartungen, sei es bei Prüfungen, bei Vorlesungen oder beim Verfassen von Abschlussarbeiten, zieht eine ganze Reihe von Problemen nach sich, auf fachlicher und auf persönlicher Ebene. Und das gilt für beide Seiten: Lehrende sprechen in Bildern, die häufig kulturell codiert und für Internationale manchmal nur schwer zu entschlüsseln sind; sie erwarten selbstständiges Lernen von Studierenden aus Ländern, in denen das Format Hausarbeit unbekannt ist und setzen einen Dialog auf Augenhöhe voraus, der sich mit dem Rollenverständnis in den Heimatländern oftmals nur schwer in Einklang bringen lässt.
Bei Studierenden wiederum führen diese interkulturellen Unterschiede häufig zu Verunsicherung. Sie ziehen sich zurück und meiden Sprechstunden. Manchmal kommen auch kritische Töne, beobachtet Christina von Behr. “Einige verstehen den Lernansatz nicht, sind es gewohnt, Antworten zu geben, anstatt Fragen zu stellen, und ziehen die Kompetenz von Lehrenden in Zweifel.”
Um die Vielzahl der akademischen und sozialen Herausforderungen aufzufangen und eine Kluft unterschiedlicher Lernkulturen zwischen Lehrenden und Studierenden möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen, etablieren International Offices und Student Service Center Unterstützungsleistungen und -strukturen. So entwickelte die Technische Universität Braunschweig 2021 ein neues Konzept für den International Student Support, das alle Angebote der zentralen Einrichtungen, Fakultäten, Institute und studentischen Akteure in diesem Bereich bündelt. Ein internationales Benchmarking im Vorfeld der Konzeptentwicklung hatte gezeigt, dass Studierende speziell aus dem englischsprachigen Ausland mit völlig anderen Vorstellungen von den Leistungen eines International Student Support nach Deutschland kommen. “In Australien, den USA oder England wird ihnen praktisch ein Rundum-Sorglos-Paket zur Verfügung gestellt”, sagt Dr. Eika Auschner vom International House der TU Braunschweig. Das hänge auch mit den hohen Studiengebühren und den entsprechenden Ressourcen angloamerikanischer Hochschulen zusammen. “Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir versucht, einen Mittelweg zu gehen.”
Werden Relevanz und Notwendigkeit gesehen?
Insbesondere für die Studieneingangsphase wurden neue Unterstützungsangebote entwickelt, die persönliche Beratung steht nun stärker im Vordergrund. Egal um welches Problem es geht, internationale Studierende haben immer mit derselben Person zu tun. Das senke die Hemmschwelle und schaffe Vertrauen, so Auschner. Die Welcome Week wiederum ist auf eine stärkere Vernetzung der Internationalen ausgerichtet, auch Workshops zum interkulturellen Lernen werden bereits in dieser ersten Woche angeboten. Im Laufe des Semesters werden sie wiederholt, damit möglichst viele Studierende davon profitieren können.
Denn das ist die eigentliche Herausforderung für die International Offices: Aufmerksamkeit zu schaffen für Angebote zu Lehre und Lernen. So wichtig und zentral diese Kurse zu interkulturellen Unterschieden sind, sie werden nicht von allen angenommen. Mit mangelndem Interesse habe das weniger zu tun, berichten Beraterinnen und Berater übereinstimmend. Für internationale Studierende, die vor allem zu Studienbeginn stark unter Druck stehen, scheint es vor allem ein zeitliches Problem zu sein.
Mirja Uschkureit, Programmkoordinatorin und Marketingleiterin bei HERE AHEAD, macht Teilnehmende vom ersten Kontakt an darauf aufmerksam, wie wichtig selbstständiges Handeln an deutschen Hochschulen ist. “Das fängt schon mit dem Einreichen von Dokumenten an – einige machen das super, andere nicht. Das ist individuell sehr unterschiedlich und hat nicht unbedingt mit der Kultur zu tun”, sagt Mirja Uschkureit. Bereits in der Vorbewerbungsphase auf die deutsche Lehr- und Lernkultur vorzubereiten, gelinge jedoch nur bedingt. “Vor der Einreise stehen ganz andere Themen im Vordergrund. Das ist so abstrakt in dem Moment und so weit weg von den eigenen Lernerfahrungen, davon können wir in dieser Phase nur eine Idee geben. So richtig erreichbar sind die Studierenden dafür erst, wenn sie hier sind.”
Peers schaffen positive Anreize
Bewährt habe sich der Einsatz von Role Models: In die Marketingaktivitäten werden ehemalige Teilnehmende ebenso eingebunden wie in vorbereitende Seminare zu Studienkompetenzen. “Wir setzen Testimonials bereits in unseren Mentoringworkshops ein – in einer frühen Phase also, wenn die Bewerbung bereits abgeschlossen ist und die Studierenden noch im Heimatland auf das Leben in Deutschland vorbereitet werden”, so Uschkureit. “In diese Workshops und Onlinetreffen bringen Testimonials eine Perspektive mit, die uns fehlt. Sie erzählen von ihren eigenen Erfahrungen, auch in der Kommunikation mit Lehrenden, und stehen für Fragen zur Verfügung.”
Anregungen für die Praxis
Die SeSaBa-Studie des DAAD kam zu dem Schluss, dass (studienerfolgsgefährdende) Anpassungsproblemen internationaler Studierender häufig mangelndes methodisches Wissen, beispielsweise rund um das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten, zugrunde liegen. Die Studie gibt gezielte Handlungsempfehlungen für Hochschulen, um internationalen Studierenden die Eingewöhnung in die neue Lern- und Campuskultur zu erleichtern: Das Erwartungsmanagement sollte beispielsweise durch mehr Beratungsgespräche und/oder (digitale) Self-Assessments zur Exploration des inhaltlichen Interesses und der fachspezifischen Anforderungen verbessert werden. Auch rechtzeitige Unterstützung bei der Abschlussarbeit sowie der Aufbau von Frühwarnsystemen und Präventionsmaßnahmen wird empfohlen.
Internationale Studierende, die nicht schnell genug sozialen Anschluss finden, tun sich im Studium meist schwer. “Eine interne Erhebung zeigte erstaunlicherweise, dass sowohl die Kontaktaufnahme zu lokalen Studierenden als auch zu anderen Internationalen schwierig ist”, sagt Margarethe Schuseil, Leiterin des International Marketing an der TU Braunschweig. Das International House arbeitet daher eng mit studentischen Initiativen zusammen und bringt die verschiedenen Gruppen über Exkursionen, Kaffeepausen oder Buddy-Programme miteinander ins Gespräch.
“Wir setzen auf Vernetzung und intrinsische Motivation, um auf diesem Weg auch Interesse an den Angeboten zum Thema Lernkulturen zu schaffen”, so Schuseil. Über Bildergalerien und Impressionen von vergangenen Veranstaltungen versuche das Marketing-Team ein “Look and Feel” zu erzeugen: “Ein Gefühl von ‘Oh, das sieht cool aus, da gehen wir jetzt mal hin’ ankert bei den Studierenden viel mehr, als wenn wir ihnen erklären, wie wichtig das Thema Lernkultur für ihren Studienerfolg ist.”
Die TU Braunschweig bewirbt das neue Student Support-Programm auf ihrer Website, mit einem Flyer und einer hohen Taktung auf Social Media. Auch im Zulassungsprozess werden Internationale immer wieder darauf hingewiesen. “Steter Tropfen höhlt den Stein”, so Schuseil. Auch ihr Team macht besonders gute Erfahrungen mit Peer-to-Peer-Formaten. Wenn in der erweiterten Community Testimonials positiv über Student Supports berichten, dann schaffe das einen Anreiz, stellt die Leiterin für Internationales Marketing fest. “Über unsere Marketingmaßnahmen versuchen wir das entsprechend zu bündeln, um solche Erfahrungen über alle vorhandenen Kanäle nach außen zu tragen.” Der Aufwand, mit dem das Programm beworben werde, kommt aus ihrer Sicht der Hochschule insgesamt zugute. “Unser Ziel ist es, auch die Universität, Lehrende und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf unsere Angebote aufmerksam zu machen. Damit sie auch wieder darauf verweisen können und zugleich selbst für die besonderen Bedürfnisse internationaler Studierender sensibilisiert werden. Insofern ist das externe Marketing zugleich ein internes Marketing.”
Lehrende stehen dem neuen International Student Support der TU Braunschweig durchaus offen gegenüber. Einige Fakultäten unterstützen die Programme auch finanziell und setzen gemeinsam mit dem International House Peer-Learning-Programme zum Erwerb der deutschen Sprache auf. “Die Betreuung internationaler Studierender aus anderen Lernkontexten erzeugt für die Lehrenden mehr Aufwand”, betont Eika Auschner. Das sei auch eine Ressourcenfrage. “Vielen fehlt schlichtweg die Zeit, um sich darum zu kümmern. Deshalb greifen wir dieses Thema jetzt auch auf und bieten zum Beispiel Unterstützung beim Verfassen von Abschlussarbeiten an.”
Fördern und fordern
Über allen Bemühungen, Studierenden aus dem Ausland einen interkulturellen Schock zu Beginn ihres Studiums zu ersparen und ihren Studienerfolg auf diese Weise bestmöglich zu unterstützen, steht die Frage: Wo endet Betreuung, und wo fängt die Selbstständigkeit an? Auch an der TU Braunschweig wurde das Thema im Zuge der Neukonzeption des International Student Supports intensiv diskutiert. “Aus unserer Sicht sollte man wegkommen von der Vorstellung, dass betreuen gleich betüdeln ist”, sagt Eika Auschner. “Wir können nicht immer alle Probleme für unsere Studierenden lösen, aber wenn wir sie mit unserem Angebot frühzeitig erreichen, können wir sie in der Beratung dazu ermutigen, selber über Lösungswege nachzudenken.” Auch das Team von HERE AHEAD ist an der Stelle ganz klar: “Unsere Internationalen wissen, dass sie sich immer an uns wenden können”, betont Christina von Behr. “Wir helfen, geben Anleitung, aber dann müssen sie es selbst hinkriegen.”
Weitere Informationen
Sowohl die Academy HERE AHEAD Bremen als auch der International Student Support der Technischen Universität Braunschweig haben sich im Rahmen der digitalen DAAD-Netzwerkkonferenz 2022 vorgestellt. In unseren für die Konferenz produzierten Videos erfahren Sie mehr über die konkreten Angebote beider Einrichtungen.
Studienvorbereitung internationaler Studierender mit und ohne Fluchthintergrund
Auf breiter Basis: Neukonzeption des International Student Supports an der TU Braunschweig
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