"Am Puls der Zeit sein und 20 Jahre weiterdenken"
Interview: Gunda Achterhold (Januar 2020)
Herr Professor Mukherjee, Sie waren acht Jahre lang Vizepräsident des DAAD, seit dem 1. Januar 2020 sind Sie nun dessen neuer Präsident. Was reizt Sie an diesem Amt?
Als weltweit größte Förderorganisation spielt der DAAD international eine wichtige Rolle, insofern ist das natürlich eine tolle Aufgabe. Über den akademischen Austausch hinaus verstehen wir uns als Beratungsinstanz für unsere Mitgliedshochschulen und für die Politik. Mit unserem Wissen und unserer Expertise nehmen wir in der Wissenschaftsszene eine übergeordnete Funktion ein. Aus dieser Position heraus wollen wir unseren Beitrag leisten. Angesichts zentrifugaler Kräfte weltweit sollte sich die internationale Wissenschaft als Schicksalsgemeinschaft, als in einem Boot sitzend, betrachten.
Wie kann die Wissenschaft diesen Kräften entgegenwirken?
Wissen basiert auf internationalem Austausch, jeder profitiert von der jeweils komplementären Expertise der anderen, über Hochschul- und Ländergrenzen hinweg. Wissenschaft ist per se international. Teams leisten immer dann am meisten, wenn sie interdisziplinär, multikulturell und divers aufgestellt sind. Antworten auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nur gemeinsam finden.
Die Internationalisierungsziele des DAAD waren bislang sehr stark quantitativ orientiert. Welche inhaltlichen Ziele stehen auf Ihrer Agenda?
In den 2010er-Jahren ging es darum, quantitative Indikatoren messbar zu machen und die Internationalisierung unserer Mitgliedshochschulen in der Breite zu stärken. Das haben wir geschafft. Es kann jedoch nicht darum gehen, die Internationalisierung weiterhin primär über das Erreichen quantitativer Zielzahlen zu definieren, da stimme ich zu. Inhaltliche Ziele müssen wir beispielsweise im Hinblick auf die hohen Abbruchquoten internationaler Studierender definieren. Im Vergleich zu inländischen Studierenden sehen wir hier eine große Diskrepanz. Ein weiterer Aspekt sind die negativen Effekte der Mobilität. In der aktuellen klimapolitischen Debatte müssen wir uns fragen, wie unsere Studierenden in Zukunft auch über nicht-physische Mobilität interkulturelle Erfahrungen sammeln können.
Welche Zukunftsszenarien wären denkbar?
Die Wissenschaft ist eine der reiseintensivsten Branchen. Als Thinktank müssen wir zehn, 20, 30 Jahre weiterdenken und analysieren, was digitale Formate oder virtuelle Umgebungen in der internationalen Zusammenarbeit bieten. Ist es abwegig anzunehmen, dass ein Auslandssemester zukünftig in einer perfekten virtuellen Umgebung stattfinden kann? Vor 30 Jahren hätte sich niemand vorstellen können, wissenschaftlichen Austausch ohne körperliche Anwesenheit an einem Ort (wie bei einer virtuellen Konferenz oder einem Web-Seminar) zu denken. Auch heute klingt das noch nach Science-Fiction, dabei ist schon vieles möglich.
Was ist mit der persönlichen Ebene des interkulturellen Austauschs, wenn Auslandssemester irgendwann im virtuellen Raum stattfinden?
Viele Erfahrungen lassen sich nur physisch machen, das ist keine Frage. Es geht darum, ob wir „face-to-face“-Formate ergänzen können um digitale Formate. Beim DAAD führen wir viele Bewerbungsgespräche bereits online, und es ist die Frage, ob jede Konferenz tatsächlich als reale Veranstaltung angesetzt werden muss. Auch wenn wir noch am Anfang stehen: Als DAAD ist es unsere Aufgabe, am Puls der Zeit zu sein und hier weiterzudenken.
Gerade internationale Studierende brauchen ein hohes Maß an Betreuung. Welche Möglichkeiten eröffnen digitale Formate mit Blick auf personalisierte Marketingmaßnahmen?
Wir müssen internationale Studierende beim Lernen unterstützen, das gehört zu unserer Kernmission. Mit dem Portal My GUIDE haben wir zum Jahresbeginn 2020 ein in dieser Form bahnbrechendes Projekt auf den Weg gebracht, das nun Stück für Stück aufgebaut wird. Über diese virtuelle Plattform bereiten wir internationale Studierende frühzeitig auf ihre interkulturellen Erfahrungen in Deutschland vor und stehen ihnen von Anfang an zur Seite. My GUIDE setzt bei der Rekrutierung und Vermarktung von Hochschulangeboten an. Kerngedanke ist, Studieninteressierten individualisiert und digital aufzuzeigen, welche Studienangebote für sie geeignet sind.
Wie funktioniert das Angebot?
Mithilfe lernender Systeme wollen wir proaktiv auf die Wünsche und Erwartungen potenzieller Bewerberinnen und Bewerber eingehen und ihnen ein realistisches Bild vom Studium an einer deutschen Hochschule vermitteln. Am Ende lebt das Ganze natürlich von dem Engagement unserer Mitgliedshochschulen, die alle relevanten Informationen zu Studieninhalten, Vorerfahrungen, Praktika und womöglich sogar zu Self Assessments beitragen und Nutzern Schritt für Schritt zugänglich machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Art und Weise, wie wir Studierende an Hochschulen heranführen, mit diesem Angebot revolutionieren.
Deutschland liegt als beliebtestes nichtenglischsprachiges Gastland auf Platz vier der weltweiten Top-Gastländer für internationale Studierende. Welche Rolle spielt die Exzellenzinitiative in diesem Zusammenhang?
Die Exzellenzinitiative steht seit 2006 für den Wechsel weg von dem Glauben, dass alle Hochschulen in allen Fächern und in allen Leistungsdimensionen gleich gut sein können. Das hat zu einer stärkeren Ausdifferenzierung geführt. Hochschulen bauen ihre Stärken aus und entwickeln ihr jeweils eigenes Profil, mit dem sie sich auf dem Markt präsentieren. Zugleich haben wir in Deutschland eine hohe Qualität in der Breite, die historisch gewachsen ist. Sie gilt es zu bewahren.
Ein Studium in Deutschland ist für die Studierenden weitgehend gebührenfrei. Ist auch das ein Faktor für die zunehmende Attraktivität deutscher Hochschulen?
Im Ausland kommt die Tatsache, dass Studierende in Australien oder Großbritannien exorbitante Studiengebühren zahlen, während alternativ an einer deutschen Exzellenzuniversität keine Gebühren anfallen, nicht immer positiv an. In einigen Kulturen, etwa im asiatischen Raum, gilt oftmals „Was nichts kostet, ist nichts wert“. Hochschulen müssen erklären, dass die Gebührenfreiheit des Studiums in Deutschland historisch gewachsen ist und keine Rückschlüsse auf die Qualität zulässt. Das Studium ist nicht kostenfrei, die Kosten werden von der Steuerzahlergemeinschaft getragen.
Da stellt sich die Frage nach dem Mehrwert der Internationalisierung für die Gesellschaft.
Studien zeigen, wie sehr von Hochschulen wirtschaftliche Prosperität ausgeht, der ökonomische Mehrwert ist gut belegt. Hochschulen arbeiten dann wissenschaftlich erfolgreich, wenn sie international nachgefragt und attraktiv für Spitzenforschende sind. In ihrem Umfeld wiederum entstehen Kooperationen mit der regionalen Wirtschaft, Partnerschaften, Infrastruktur. Davon profitieren auch die Städte, Gemeinden und Regionen.
Der GATE-Germany-Lenkungsausschuss
Der Lenkungsausschuss ist das beschlussfassende Gremium von GATE-Germany. Er setzt sich zusammen aus dem Sprecher des Konsortiums Prof. Dr. Joybrato Mukherjee (Präsident des DAAD) und acht Rektorinnen und Rektoren bzw. Präsidentinnen und Präsidenten von GATE-Germany-Mitgliedshochschulen. Der Leiter der Geschäftsstelle Stefan Hase-Bergen nimmt beratend teil. Der Lenkungsausschuss verabschiedet strategische Richtlinien für die Arbeit des Konsortiums, berät bei der Jahresplanung und entscheidet über die Neuaufnahme von Konsortialmitgliedern.
Bleiben Sie auf dem Laufenden!
Sie möchten regelmäßig über neu erschienene Artikel informiert werden? Abonnieren Sie den DAAD-Newsletter Hochschul- und Forschungsmarketing.