CHILE L Ä N D E R P R O F I L Informationen für das internationale Hochschulmarketing gate-germany.de

EDITORIAL INHALT Liebe Leserinnen und Leser, Chile ist für deutsche Hochschulen und Forschungs- einrichtungen ein hochattraktiver Partner. In Berei- chen wie Astronomie, Erneuerbare Energien, Geo- wissenschaften oder Luft- und Raumfahrt bietet das lateinamerikanische Land hervorragende Standort- bedingungen. Seit vielen Jahren bestehen in diesen und anderen Fächern enge deutsch-chilenische Ko- operationen. Die Universitäten Chiles gelten auf dem lateinameri- kanischen Subkontinent als Benchmark für Qualität und ziehen Studierende aus der ganzen Region an. Allerdings waren hohe Kosten für eine gute Ausbil- dung sowie generelle soziale Ungleichheiten im Land in der Vergangenheit ein Grund für zum Teil schwere Unruhen. Eines der wichtigsten Ziele des neuen Staatsoberhaupts Gabriel Boric ist daher eine Reform des Bildungs-, Gesundheits- und Rentensys- tems. Doch es bleibt abzuwarten, ob ein gesell- schaftlicher Wandel gelingt. Einmal mehr zeigt sich: In unruhigen Zeiten ist es gerade die internati- onale wissenschaftliche Zusammenarbeit, die Kons- tanz schafft und nach Antworten auf die drängen- den Fragen der Gegenwart und Zukunft sucht. Die „Länderprofile“ bieten Hintergrundinformatio- nen, die für das Hochschulmarketing, die Gewin- nung internationaler Studierender und den Aufbau von Hochschulkooperationen nützlich sein können. Viel Vergnügen bei der Lektüre! AUF EINEN BLICK Chile Zahlen und Fakten, Hochschul- und Bildungsdaten STIMMEN Deutsch-chilenische Begegnungen Meinungen und Einschätzungen POLITIK UND GESELLSCHAFT Die Grenzen der Ungleichheit Eine neue Verfassung, Reformen in Sozial- und Bildungspolitik – viele Menschen in Chile hoffen nach den Wahlen auf einen grundlegenden Wandel WIRTSCHAFT Land der Rohstoffe Mit seinen Bodenschätzen ist Chile ein attraktiver Handels- partner. Das Land verfolgt eine offene Wirtschaftspolitik 04 06 08 12 HOCHSCHULE UND FORSCHUNG Universitäten im Wandel Chiles Hochschulen setzen in Lateinamerika Maßstäbe für Qualität. Die finanziellen Hürden für ein Studium waren im- mer wieder Thema von Protesten, doch die Lage bessert sich 14 „Gemeinsame Lehre führt zu gemeinsamer Forschung“ Dr. Inés Recio leitet das Heidelberg Center Lateinamerika. Im Interview erläutert sie Idee und Erfolge der Einrichtung 17 „Hohe wissenschaftliche Standards“ Akademische Brückenbauer geben Einblicke in ihre Arbeit und Tipps für erfolgreichen Austausch Mitreißende Dynamik Erfahrungsberichte von Studierenden Wichtiges Partnerland Kooperationen und Austausch mit chilenischen Universitäten lohnen sich in vielerlei Hinsicht Eine Forschungslandschaft in Bewegung Chile ist ein vielversprechender Forschungsstandort. Vielen Einrichtungen fehlt es an finanziellen Mitteln, aber das könnte sich bald ändern Sechs gute Beispiele Deutsch-chilenische Hochschul- und Forschungskooperationen im Porträt 18 21 22 24 26 DER ANDERE BLICK Brücken der Kulturen Die ersten bedeutsamen Kontakte zwischen Deutschland und Chile entstanden schon vor über 500 Jahren. Patricia Cerda zeichnet die frühen Begegnungen beider Länder nach 30 IM FOKUS Deutsche und deutsch-chilenische Einrichtungen Karte der Wissenschaftsbeziehungen Impressum 31 02

LÄNDERPROFIL // 05 CHILE Hochschulbildung in Chile 1.294.739 Studierende waren im Studienjahr 2021 an einer der 150 Institutionen des chilenischen Hochschulsystems eingeschrieben, etwa 60 Prozent von ihnen an Universitäten. Die tertiären Bildungseinrichtungen unterteilen sich in: Öffentliche Bildungsausgaben 5,4 Prozent des BIP 2018, Quelle: UIS Absolventenquote 14,5 % 59 Universidades Bruttoabsolventenquote im Tertiärbereich (ISCED 6 und 7) 2019, Quelle: UIS 39 Institutos Profesionales Studieren im Ausland Mehr als17.500 Studierende aus Chile waren 2019 an ausländischen Hochschulen eingeschrieben. 6.606 gingen nach Argentinien, 2.466 in die USA, 2.423 nach Spanien. Deutschland ist das fünftbeliebteste Zielland. Quelle: UNESCO 52 Centros de Formación Técnica Zu den 59 Universitäten zählen 18 staatliche Universitäten, 11 private Universitäten mit staatlicher Beteiligung und 30 private Universitäten. Studieren in Deutschland 1.180 chilenische Studierende (davon 521 Frauen) studie- ren in Deutschland, unter ihnen 237 Studienanfängerinnen und Studienanfänger. 893 studieren an Universitäten, 89 an Kunsthochschulen, 196 an (Fach-)Hochschulen und je eine Person an einer Pädagogischen sowie einer Theologischen Hochschule. 2021, Quelle: Ministerio de Educación de Chile WS 2020/21, Quelle: destatis Peru Brasilien Bolivien CHILE Argentinien Beliebteste Fächergruppen der chilenischen Studierenden in Deutschland RECHTS-, WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN INGENIEUR - WISSENSCHAFTEN MATHEMATIK, NATURWISSENSCHAFTEN GEISTES- WISSENSCHAFTEN 155 f i a l / o t o h P Z S / s a b i r i G e s o J 322 250 226 WS 2020/2021, Quelle: destatis INFOS UND TIPPS Das Netzwerk Learn Chile bietet einen Überblick über das chilenische Bildungssystem, über Förderprogram- me und gibt allgemeine Hinweise zu Studium und Leben in Chile. www.learnchile.cl

Alejandra Ruddoff Chile und Deutschland sind historisch eng verwoben. Das liegt nicht zuletzt an der deutschen Einwanderung nach Chile ab dem 19. Jahrhundert und den chilenischen politisch Verfolgten, die in Zeiten autoritärer Regierung Asyl in Deutschland erhielten. Heute steht „Ca- lidad alemana“ („deutsche Qualität“) in Chile hoch im Kurs, und viele Deut- sche vermuten im Land jenseits der Anden ihren Sehnsuchtsort. Studium und Kunst gedeihen in Chile unter dem humboldtschen Grundsatz „Bildung durch Wissenschaft“. So ori- entieren sich Universitäten und staatli- che Einrichtungen am Postulat des freien Denkens und ungehinderter Forschung. Zugleich gilt Chile als libe- raler Wirtschaftsmotor Lateinameri- kas. Der Austausch von Kunstschaffen- den und Forschenden sowie wechselseitige Auslandsaufenthalte sind wichtige Bereicherungen für das intellektuelle und bilaterale Zusam- menwirken ebenso wie für die profes- sionelle Entwicklung jedes Einzelnen. „Zurückgekehrte“ des fruchtbaren Austauschs fördern seit Langem er- folgreich diesen Dialog. ALEJANDRA RUDDOFF ist DAAD-Alumna und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Berlin. Seit 2019 ist sie korrespondierendes Mitglied der Akademie der Schönen Künste Chiles. Günther Maihold „Por la razón o la fuerza“ („Durch Ver- nunft oder Stärke“) – so steht es seit 100 Jahren im Staatswappen Chiles. Dieser Wahlspruch spiegelt die Zerris- senheit in der chilenischen Geschichte wider. Heute herrscht Aufbruchstim- mung: Ein „junges Chile“ will das Land neu erfinden und ausgetretene Pfade verlassen. Das bedeutet zum Teil auch einen schwierigen Prozess der Selbstverständigung. An die starke Wissenschaftstradition des Landes kann angeknüpft werden. Mit Deutschland haben sich vor allem im Bereich von Zukunftsthemen viel- versprechende Kooperationen entwi- ckelt: Umwelt- und Klimaforschung, Solarenergie und Geothermie, aber auch die Ausgestaltung der Rohstoff- partnerschaft nach Kriterien der Nach- haltigkeit stehen oben auf der Agenda. Chile könnte zu einem spannenden La- boratorium einer „Moderne der Nach- haltigkeit“ werden, nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch im Bereich sozialer Innovationen. PROF. DR. GÜNTHER MAIHOLD ist stell- vertretender Direktor der Stiftung Wissen- schaft und Politik und Lateinamerikaexperte. LÄNDERPROFIL // 07 CHILE Gudrun Kausel Chile ist aus Sicht vieler verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ein hochinteressanter Kooperationspart- ner: für Geologie, Biologie und Meteo- rologie beispielsweise, weil das Land Zugang zur einzigartigen Antarktis hat, über mehr als 4.200 Kilometer Meeresküste verfügt und in der An- dengebirgskette alle Klimazonen exis- tieren. Für Medizin und Soziologie we- gen der Diversität der Bevölkerung, für Klimawissenschaften und Astronomie wegen der hervorragenden Standortbe- dingungen – mehr als 70 Prozent der globalen Ausstattung für astronomi- sche Forschung befinden sich in der Atacama-Wüste. Das Interesse an einer Zusammenar- beit mit deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist in Chile groß. Vor allem Themen wie Ausbil- dung, Technologietransfer, Beteiligung an Forschungsprojekten oder Netz- werkbildung spielen dabei aus chileni- scher Sicht eine wichtige Rolle, um die nachhaltige Entwicklung des Landes auch im Wissenschaftsbereich voran- zutreiben. PROF. DR. GUDRUN KAUSEL ist assoziierte Professorin am Institut für Biochemie und Mikrobiologie der Universidad Austral de Chile in Valdivia sowie Vertrauens- wissenschaftlerin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Chile. p ri v at S W P A leja n dro Sotomayor

LÄNDERPROFIL // 09 CHILE POLITIK UND GESELLSCHAFT Die Grenzen der Ungleichheit Seit Jahren fordern vor allem junge Chileninnen und Chilenen einen grundlegenden politischen Wandel: eine neue Verfassung, Reformen bei Rente und Bildung. Vieles scheint derzeit möglich, aber sicher ist nichts. von Karen Naundorf Natalia Aravena war noch nicht einmal bei den Protesten angekommen, als in einer Seiten- straße ein Polizist mit einer Tränengaskartu- sche auf sie schoss. „Direkt aufs Auge, aus ei- ner Entfernung von maximal drei oder fünf Metern, sehr nah“, sagt die 26-Jährige. Wie Tausende andere ging die Krankenschwester damals, im Oktober 2019, auf die Stra- ße, um gegen die sozialen Missstände im Land und für ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem zu de- monstrieren. „Estallido social“ wurden die heftigen Pro- teste getauft: eine „soziale Explosion“ des Unmuts über die Ungleichheit. Insbesondere junge Chileninnen und Chilenen wollen diese nicht länger akzeptieren. Das Vorgehen des Polizisten, der auf Aravena schoss, war kein Einzelfall: Die Staatsanwaltschaft registrierte seit Ausbruch der Proteste 8.827 Anzeigen gegen die Sicher- heitskräfte, in einigen Fällen auch wegen Folter und sexu- ellen Missbrauchs. Mindestens vier Menschen wurden von Polizisten getötet, 460 wurden an den Augen verletzt. Einige von ihnen sind erblindet. Auch Natalia Aravena trägt heute im rechten Auge eine Prothese. „Nie zuvor, nirgendwo auf der Welt, hat es jemals eine so große Zahl von schweren Augenverletzungen durch Aufprall in so kurzer Zeit gegeben wie in Chile“, urteilt der Präsident der Ärztekammer, Patricio Meza, „nicht einmal in Ländern mit kriegerischen Konflikten.“ SOZIALE UNGERECHTIGKEIT Es war eine lange aufgestaute Wut, die sich in den De- monstrationen entlud. Über hohe Studiengebühren zum Beispiel: Der Besuch einer staatlichen Universität kostet in Chile monatlich etwa 500 Euro, private Hochschulen erheben in der Regel noch höhere Gebühren. Über zu niedrige Renten und Löhne: Sieben von zehn Berufstäti- gen verdienen weniger als umgerechnet 736 Euro im Mo- nat. Über eine unzureichende öffentliche Gesundheits- versorgung: Fast 26.000 Menschen starben im Jahr 2018, während sie auf eine Operati- on warteten – und das war noch vor der Coronapande- mie. Verbessert hat sich seit- dem wenig. Im Gegenteil, die Pandemie hat die Ungleichheit im Land weiter verstärkt. s e g a m I y t t e G a i v P F A / L O O P / z e l a z n o G s i v l E International galt Chile lange als Musterland. Das Pro-Kopf- Einkommen ist das höchste in Südamerika. Doch Durch- schnittszahlen täuschen eben auch über Ungleichheiten hin- weg. Das reichste Prozent der Bevölkerung in Chile besitzt fast die Hälfte des gesamten Vermögens im Land. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2021 schaffen es mehr als die Hälfte der Chileninnen und Chilenen mit ihrem Gehalt nicht, ihre Familien aus der Armut zu ho- len. Sozialer Aufstieg ist für viele schwierig bis unmöglich. Gabriel Boric Font Der 1986 in Punta Arenas geborene Politiker wurde im März 2022 in das Amt des Staatsoberhaupts und Re- gierungschefs Chiles eingeführt. Bo- ric hatte sich seit 2011, damals als Präsident der Vereinigten Studieren- denschaft an der Universidad de Chi- le, zum Anführer und Gesicht der landesweiten Proteste der jungen Generation gegen das Bildungssys- tem entwickelt. Er ist Mitgründer des 2017 gebildeten politischen Bündnisses verschiedener linker Par- teien und Bewegungen Frente Amp- lio. 2019 übernahm er eine führende Rolle in der Oppositionsbewegung. Proteste, etwa für kostenlose Bildung, gab es schon länger. Ab 2011 gingen die sogenann- ten „Pinguine“ auf die Straßen: Schülerinnen und Schü- ler in ihren weiß-blauen Uniformen, auch Studierende schlossen sich den Demonstrierenden an. Sie forderten

LÄNDERPROFIL // 11 CHILE erhöhungen für Bessergestellte werden auf Wider- stand stoßen. Selbst der von Boric angekündigte Kampf gegen Steuerhinterziehung dürfte in gewis- sen Kreisen auf wenig Gegenliebe treffen. Egal in welchem Bereich er das Ruder wen- den möchte, er wird starke Interessen antasten müssen. Ein eindrückliches Beispiel ist allein schon die Wasser- versorgung: Diese ist in Chile fast gänzlich privatisiert. Ganze Dörfer werden mit Tankwagen notversorgt, während sich am gleichen Ort Un- ternehmen Wasserrechte gesichert haben. sein Kabinett berief, das gab es noch nie in Chile. Ein Präsident ohne Krawatte und mit einer Schärpe, genäht in einer unabhängigen Textilwerkstatt, ge- gründet von Arbeiterinnen, die die Niedriglöhne in den Fabriken leid waren. Ein Prä- sident, der während der offiziellen Feierlichkeiten gleich zwei Opfer von Polizeigewalt grüßte und um- armte. Ihnen waren während der Proteste beide Augen ausgeschos- sen worden. Gustavo Gatica unter- stützte Boric im Wahlkampf, Fa- biola Campillai ist gewählte Senatorin. 155 Sitze hat die Abgeordneten- kammer. Sie ist eine von zwei Kammern des Nationalkongres- ses (Congreso Nacional). In der Abgeordnetenkammer sind zur- zeit 19 Parteien vertreten. Die zweite Kammer ist der Senat (Senado) mit 50 Sitzen. WUNSCH UND WIRKLICHKEIT So groß der Jubel auf den Straßen nach der Wahl Borics auch war, noch haben sich die Machtverhältnisse in Chile nicht wirklich verschoben. Im Parlament hat seine Koali- tion keine Mehrheit. Dennoch hat Boric bereits Zei- chen gesetzt. Der Tag im März, an dem er den Amts- eid ablegte, war ein Tag voller Symbole: Ein Präsident, der vierzehn Frauen und zehn Männer in Dennoch wird Chile vermutlich nicht so bald zur Ruhe kommen. Dem neuen Präsidenten sind Kri- tik und Widerstände gewiss, schon sechs Wochen nach seinem Amtsantritt zeigten Umfragen sinken- de Zustimmungswerte. Auch die Protestbewegung ist gespalten. Viele misstrauen Boric, halten ihn für zu pragmatisch. Deshalb gehen die inzwischen tra- ditionellen Freitagsproteste weiter. Unter anderem, um eine Neugründung der Carabineros, der unifor- mierten Polizei, zu fordern. Inwieweit sich das politische System Chiles künftig ändern wird, hängt auch von der Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger über die neue Verfassung ab. Das wünscht sich auch Natalia Aravena. „Ich weiß, dass das schwierig ist. Die Polizei ist eine mächtige Institution. Aber Veränderungen sind nötig: Es kann doch nicht sein, dass eine Polizei ihre Waffen auf die eigene Bevölkerung richtet.“ Mehr als zwei Jahre, nachdem ihr ein Auge ausgeschossen wurde, weiß sie noch immer nicht, welcher Polizist den Schuss abgefeuert hat. „So geht es nicht nur mir, auch in anderen Fällen wird nicht aufgeklärt“, sagt Aravena. Natürlich hoffe sie auf Boric und seine neue Regierung. „Ich glaube aber, wir müssen weiter fordernd auftreten, damit er nicht vergisst, was sei- ne Wählerinnen und Wähler von ihm erwarten, wa- rum wir demonstrieren. Einen Blankoscheck kriegt er von mir nicht.“ bst S arah Pa AUTORIN Ob und wie sehr Chile sich wan- deln wird, hängt auch von der Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger im September 2022 ab, wenn sie in einem Referen- dum über den Text der neuen Verfassung abstimmen. Sozial ge- recht und feministisch soll sie sein. Das Referendum könnte zum Schicksalstag für Boric und für das Land werden. Klar ist: Wenn die neue Verfassung von der Bevölkerung angenommen wird, geht Chile ei- nen großen Schritt in seiner Loslösung vom politi- schen Erbe der Pinochet-Diktatur. // KAREN NAUNDORF ist Südamerika-Korrespon- dentin des Schweizer Fern- sehens (SRF) und Mitglied des Auslandskorrespon- denten-Netzwerks Weltreporter.net. f i a l / x u d e R / 5 1 0 2 s o l l i c e l l a V s a c u L

LÄNDERPROFIL // 13 CHILE Großes Potenzial für erneuerbare Energien: In der Atacama-Wüste ist die Sonneneinstrahlung weltweit am höchsten. k c o t S e b o d A / . M l a v o d n a S s i u L um. Beide Metalle sind von strategischer Bedeutung für einen klimagerechten Umbau der Weltwirtschaft. Und auch auf der Suche nach grünem Treibstoff wird Ameri- kas Südzipfel gesteigerte Bedeutung für Europa bekom- men. Die rauen Winde Patagoniens können saubere Ener- gie für die Elektrolyse von grünem Wasserstoff liefern, ebenso wie die Dauersonne über der Atacama-Wüste. se Trends könnten sich fortsetzen, wenn die Weltwirt- schaft weiter volatil bleibt. Und obwohl Chile mit einem jährlichen Durchschnittseinkommen von fast 30.000 US- Dollar pro Jahr (in 2019) inzwischen zu den reichen Län- dern des Planeten gezählt wird, gilt es wegen der unglei- chen Wohlstandsverteilung und seiner Abhängigkeit von Rohstoffexporten immer noch als „Emerging Market“. Das zu beheben ist die Mission der neuen Regierung. Ähnlich wie in Deutschland oder Japan in den 1950er- Jahren soll eine soziale Marktwirtschaft Chiles Mittel- klasse absichern und fördern, um langfris- tig einen größeren Inlandsmarkt und den Ausbau nationaler Industrien zu ermögli- chen sowie die Abhängigkeit von Roh- stoffzyklen hinter sich zu lassen. Auch Australien oder Neuseeland werden als wirtschaftliche Vorbilder gesehen, die den Status von reinen Rohstoffexporteuren überwinden und trotz ihrer abgelegenen geografischen Lage einen nachhaltigen und diversifizierten Wohl- stand aufbauen konnten. 206,2 Milliarden Euro betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chiles umgerechnet laut Weltbank im Jahr 2020. Die Wirtschaftsleistung sank demnach um 5,8 Prozent. Schätzungen der OECD zufolge kam es 2021 zu einem Wachstum von 12 Prozent. Bergbau und Energiegewinnung sind auch für die deut- sche Maschinenbaubranche Schlüsselindustrien in Chile. Außerdem bezieht Deutschland beispielsweise Obst aus dem südamerikanischen Land. INTERNATIONALE HANDELS- BEZIEHUNGEN FORTFÜHREN Sein Rohstoffreichtum ist einer der Trümpfe Chiles. Der andere ist die Offenheit seiner Wirtschaft. Mit mehr als 60 Ländern hat das Land Handelsabkommen abgeschlossen, mit sämtlichen wichtigen Wirt- schaftsblöcken treibt es Austausch. Seit 2010 ist es Mitglied der OECD und damit das zweite lateinamerikanische Land nach Me- xiko, das Aufnahme in den Zusammenschluss der mitt- lerweile 38 stärksten Wirtschaftsnationen fand. An diesen Grundlagen werde er nichts ändern, hat Gabri- el Boric den Menschen in Chile und auch internationalen Investoren versprochen. Dennoch sind zwischen März und August 2021, noch vor seinem Amtsantritt, etwa 8,8 Milliarden US-Dollar aus dem Land abgeflossen. In den Jahren 2019 und 2020 waren es insgesamt 24,3 Milliarden US-Dollar, was etwa 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Zudem legten in den vergangenen Jahren viele Chileninnen und Chilenen ihr Geld in US-Dollar an. Die- Die Wirtschaft Chiles hat – trotz der aktuel- len Herausforderungen – gute Karten, wenn die Rahmenbedingungen in den kommenden Jahren stimmen. Eine Voraussetzung ist, dass Institutionen der Exekutive wie Justiz und Zentralbank auch unter einer neuen Verfas- sung abgesichert sind. Präsident Boric benö- tigt für seine Reformen zudem die Unterstüt- zung des zersplitterten Parlaments. Und er sollte sein Versprechen einlösen, den Umbau Chiles nicht mit einer zu hohen Staatsver- schuldung zu finanzieren. // privat AUTOR ANDREAS FINK ist Südamerika-Korrespon- dent für deutschsprachige Medien wie Focus, die Bör- sen-Zeitung und die Die Presse. Er lebt seit 2007 in Buenos Aires, Argentinien.

Insgesamt 59 Universitäten gibt es in Chile. Eine der größten ist die Pontificia Universidad Católica de Chile. LÄNDERPROFIL // 15 CHILE Die Schüler- und Studierendenproteste der ver- gangenen Jahre haben die Bildungs- und Hoch- schulpolitik Chiles auch in Deutschland immer wieder in den Fokus der Medien gerückt. Dass eine gute Schul- und Universitätsausbildung in dem süd- amerikanischen Land mit enormen privaten Kosten ver- bunden ist, lässt sich größtenteils noch auf die Bildungspo- litik der Militärdiktatur zurückführen. Diese verringerte die staatliche Finanzierung der Hochschulen ab 1980 konti- nuierlich und ermöglichte gleichzeitig die Gründung von privaten Universitäten, die kaum staatlicher Kontrolle un- terliegen. Langfristig führten diese Rahmenbedingungen zu einem stark deregulierten Hochschulsystem und einer ausgeprägten sozialen Segregation im Bildungsbereich. Bis heute ist Chile im OECD-Vergleich eines der Länder mit den höchsten privaten Ausbildungskosten, doch vor allem beim Universitätsstudium treten bereits Verbesserungen ein. Den Forderungen der Protestbewegung sollte mit einer Re- form der Hochschulrahmengesetzgebung im Jahr 2018 Rechnung getragen werden. Bereits zwei Jahre zuvor wur- de eine Regelung zur Studiengebührenbefreiung für Stu- dierende aus einkommensschwachen Familien eingeführt. Seither steigt der Anteil der staatlichen Finanzierung des Hochschulsystems wieder. Dennoch stand bei den im Herbst 2019 einsetzenden Massendemonstrationen auch der Zugang zu Bildung wieder im Mittelpunkt. Mit der Wahl Gabriel Borics zum Präsidenten verbinden nun viele Menschen die Hoffnung, dass weitere notwendige Refor- men durchgeführt werden. Der neue Präsident möchte die staatlichen Investitionen in Bildung und Forschung erhö- hen. Bildung ist zudem ein Thema der neuen Verfassung, die im Laufe des Jahres 2022 erarbeitet wird. i d n a r g o g e i d / k c o t S i JUNGE HOCHSCHULLANDSCHAFT Chiles Universitäten sind im Vergleich zu europäischen Hochschulen relativ jung. Die Universidad de Chile wurde 1842 gegründet und ist die älteste Hochschule des Landes. Bis zu Beginn der 1980er-Jahre gab es insgesamt acht Uni- versitäten, von denen der Großteil staatlich war und deren Campus sich über das ganze Land verteilten. Nach einer Gesetzesreform im Jahr 1981 entstanden aus mehreren der regionalen Zweigstellen eigenständige Universitäten. Dane- ben wurden in den Folgejahren zahlreiche neue, aus- schließlich private Universitäten gegründet. Heute existieren in Chile insgesamt 59 Universitäten (da- von 46 akkreditiert), teils mit Campus in mehreren Städ- ten. Bei 18 handelt es sich um staatliche Universitäten, elf sind privat mit staatlicher Beteiligung und 30 sind private, nach 1981 gegründete Universitäten. Mehr als 780.000 Stu- dierende und damit etwa 60 Prozent aller Studierenden in Chile sind an einer Universität eingeschrieben. Neben den Universitäten wurden ab 1981 weitere, dem ter- tiären Bildungsbereich zugeordnete berufsbildende Institu- tionen geschaffen: die Institutos Profesionales und die Cen- tros de Formación Técnica. Sie bieten verschiedene Berufsabschlüsse mit einer Ausbildungsdauer zwischen zwei und vier Jahren, dürfen aber keine akademischen Gra- de verleihen. An den heute insgesamt 39 Institutos Profesi- onales sind knapp 380.000 Studierende eingeschrieben, an den 52 Centros de Formación Técnica knapp 135.000. Das grundständige Studium an chilenischen Universitäten („Licenciatura“) dauert je nach Fachrichtung zwischen vier und sieben Jahren. Es führt zum akademischen Grad des „Licenciado“ oder zum „Título Profesional (con Licenciatu- ra)“, der für geschützte Berufe beispielsweise im Ingenieur- wesen, in der Architektur oder im medizinischen Bereich qualifiziert. In einigen Fächern werden auch dreijährige Grundstudiengänge angeboten, die mit dem Grad des „Ba- chiller“ abschließen. An die „Licenciatura“ können Univer- sitätsstudierende ein zweijähriges Magisterstudium mit dem Abschluss „Magíster“ sowie ein in der Regel drei- bis fünfjähriges Promotionsstudium zum Erwerb des „Docto- rado“ anschließen. Ein wichtiger Akteur in der chilenischen Hochschulland- schaft ist der Rektorenrat CRUCH (Consejo de Rectores de las Universidades Chilenas). Der 1954 gegründeten, mit der deutschen Hochschulrektorenkonferenz vergleichbaren Organisation gehören 30 Universitäten an. Fast alle gehen auf staatliche oder päpstliche Dekrete zurück und werden auch als „traditionelle Universitäten“ bezeichnet. Den Beliebteste Fächergruppen der chilenischen Studierenden in Deutschland 322 RECHTS-, WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTEN 250 INGENIEURWISSENSCHAFTEN 226 MATHEMATIK, NATURWISSENSCHAFTEN 155 GEISTESWISSENSCHAFTEN Die meisten der chilenischen Studierenden in Deutschland entscheiden sich für ein Fach in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Quelle: Statistisches Bundesamt, WS 2020/2021

„Gemeinsame Lehre führt zu gemeinsamer Forschung“ Das Heidelberg Center Lateinamerika (HCLA) bietet in Chiles Hauptstadt internationale und interdisziplinäre Masterstudiengänge an. Wie daraus auch Forschungskooperationen entstehen, erläutert die akademische Geschäftsführerin Dr. Inés Recio. Interview Miriam Hoffmeyer LÄNDERPROFIL // 17 CHILE t d r e w h c S s a i b o T / g r e b l e d i e H t ä t i s r e v i n U Frau Dr. Recio, das HCLA ist das einzige Postgraduiertenzent- rum einer deutschen Hochschule in Lateinamerika. Was hat die Universität Heidelberg 2002 zur Gründung bewogen? Ziel war und ist es, die Universität Heidelberg als internatio- nale Hochschule sichtbarer zu machen, unter anderem durch die Gewinnung von exzellenten Partnern für Forschung und Lehre und herausragendem wissenschaftlichem Nachwuchs. 2002 gab es an deutschen Hochschulen trotz des wissen- schaftlichen Potenzials Lateinamerikas nur wenige struktu- rierte Kooperationen mit der Region. Santiago de Chile wurde wegen der hohen Qualität der chilenischen Hochschulen, der politischen Stabilität Chiles und der traditionell hohen Affini- tät zu Deutschland ausgewählt. Die Universidad de Chile und die Pontificia Universidad Católica de Chile, unsere wichtigs- ten Kooperationspartner im Land, gehören zu den besten Hochschulen Lateinamerikas. Unsere Hauptzielgruppe sind Studierende aus Lateinamerika, wobei wir immer wieder auch Studierende aus Europa und Nordamerika betreuen. Unser ältester Masterstudiengang ist International Law (LL.M.), mit mittlerweile über 200 Absolven- tinnen und Absolventen. Sehr gefragt ist auch unser Master- programm Governance of Risk and Resources. Der Studiengang Medizinische Informatik hat sogar zur Gründung eines neuen Instituts an der Universidad de Chile beigetragen – was zeigt, wie Lehrkooperationen auch Strukturen schaffen können. 2022 startete mit der Pontificia Universidad Católica ein internatio- naler Doppel-Master der Übersetzungswissenschaft mit dem Fokus auf Übersetzungstechnologien, der erste dieser Art mit Deutsch als Arbeitssprache in Lateinamerika. Einige der Lehr- veranstaltungen sind auf Deutsch, während in den anderen Studiengängen auf Spanisch oder Englisch gelehrt wird. Die Studierenden der Übersetzungswissenschaft verbringen ein Jahr in Heidelberg, während in den anderen Programmen in der Regel Kurzaufenthalte vorgesehen sind. Eine der Hauptaufgaben des HCLA ist die Organisation und Betreuung gemeinsamer internationaler Masterstudiengänge. Inwiefern nützen diese der Forschungszusammenarbeit? Sind die Studierenden an einem längeren Deutschland- aufenthalt nicht interessiert? Die gemeinsame Lehre hat ein starkes Vernetzungspotenzial und mündet häufig in gemeinsame Forschung: Dozentinnen und Dozenten nähern sich durch die Lehre auch wissenschaft- lich an und lernen die Forschungskompetenzen des Partners besser kennen. Daraus entstehen oft fruchtbare Kooperatio- nen. Unsere Studierenden werden früh in die Forschung einbe- zogen. Einige Absolventinnen und Absolventen unserer Pro- gramme werden in Heidelberg promoviert oder forschen dort als Postdocs. Forschende aus Heidelberg, die Kontakte in La- teinamerika suchen, unterstützen wir und kooperieren dabei eng mit dem 2019 in Heidelberg gegründeten Heidelberg Cen- ter for Ibero-American Studies (HCIAS). Gemeinsam fördern wir die Entwicklung weiterer Studien- und Forschungsstruktu- ren mit regionalen Partnern. Wie sieht die Zusammenarbeit in der Lehre genau aus? Doch, sehr – aber die Ressourcen für Stipendien sind in Lateinameri- ka nun mal gering. Man sollte dar- auf Rücksicht nehmen und mit den Partnerhochschulen überlegen, wie sich die begrenzten Fördermöglich- keiten am besten nutzen lassen. Für eine Kooperation sollte man aber zunächst gemeinsam sondie- ren, welche Themenfelder für die Zielregion wirklich relevant sind. Dann funktioniert die Zusammen- arbeit in der Regel sehr gut. Ich er- lebe die chilenischen Partner als außerordentlich offen, interessiert und engagiert! // DR. INÉS RECIO ist akademische Geschäftsfüh- rerin des Heidelberg Center La- teinamerika (HCLA) in Santiago de Chile, das seit 2009 in Teilen als Exzellenzzentrum in For- schung und Lehre durch den DAAD gefördert wird. Zuvor war sie am Institut für Überset- zen und Dolmetschen der Uni- versität Heidelberg tätig. Inés Recio hat Übersetzungswissen- schaften und Angewandte Linguistik studiert und wurde an der Universität Heidelberg promoviert.

LÄNDERPROFIL // 19 LÄNDERPROFIL // 19 CHILE CHILE p ri v at PROF. DR. STEPHAN VON CRAMON-TAUBADEL ist Inhaber des Lehrstuhls für Agrarpolitik im Department für Agrar ökonomie und Rurale Entwicklung der Georg­August­Universität Göttingen. Seit vielen Jahren arbeiten wir eng mit der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Talca zusammen. Unser gemeinsames Doppelmasterprogramm International Agribusiness and Rural Development (IARD) bildet seit 2002 Füh- rungskräfte für den Agrarsektor aus. Pro Jahr nehmen etwa acht Studierende aus Chile, anderen lateinamerikanischen Ländern und Deutschland teil, die je zwei Semester in Göttingen und Talca studieren. Die Hochschulen ergänzen einander sehr gut: Während in Niedersachsen vor allem Getreide, Milch und Fleisch produ- ziert werden, dominieren rund um Talca Obst, Gemüse und Wein. Durch die Ko- operation können wir den Studierenden eine wesentlich breitere Palette an Modu- len anbieten. Ein interessantes Thema sind auch die großen Unterschiede in der Agrarwirtschaft: Die chilenische Agrarpolitik ist im Vergleich zu der in der Euro- päischen Union sehr liberal und exportorientiert. Diesbezüglich lassen sich zum Beispiel auch Fragen der Nachhaltigkeit diskutieren. Die Universidad de Talca ist außerdem am Projekt „liveSciences3“ der Universität Göttingen beteiligt, das im DAAD-Programm Internationale Mobilität und Koope- ration digital (IMKD) gefördert wird. Es ermöglicht Studierenden der Partner- hochschulen seit 2020 internationale Erfahrungen durch gemeinsame digitale Lehrveranstaltungen. Im Zuge von „liveSciences3“ werden auch die Datensysteme der Partnerhochschulen vernetzt, was die Verwaltung stark vereinfacht. Die phy- sische Mobilität soll nicht vollständig ersetzt, sondern effektiver und flexibler ge- staltet werden. Das langjährige Vertrauensverhältnis und die gemeinsamen Curri- cula mit der chilenischen Universität bilden hierfür natürlich eine gute Grundlage. Dass die Zusammenarbeit so reibungslos läuft, liegt auch daran, dass viele Lehren- de der Universidad de Talca in Deutschland promoviert haben. Generell sind die wissenschaftlichen Standards der chilenischen Hochschulen hoch. Zudem bietet Chile eine vergleichsweise hohe politische und wirtschaftliche Stabilität. Das alles macht das Land für Kooperationen sehr attraktiv. MEIN TIPP Bei der Suche nach einem Kooperationspartner sollte man sich auch abseits der Hauptstadt Santiago de Chile umsehen. In den Regionen gibt es gute, kleinere Hochschulen, die oft besonders engagiert und an internationalen Kooperationen sehr interessiert sind.

Internationales Arbeitsklima In den Tiefen der Gewässer Patagoniens schlummern große Schätze der Biodiversität. Eines meiner wich- tigsten Anliegen ist es, diese Artenvielfalt zu schüt- zen. In meiner Forschung widme ich mich Schlüssel- arten wie den Kaltwasserkorallen, denn sie überneh- men wichtige ökologische Funktionen. Aufgrund ih- rer abgelegenen Lebensräume gibt es in Chile jedoch kaum Forschungsgruppen, die sich mit diesen Lebe- wesen befassen. Als ich herausfand, dass sich das Alf- red-Wegener-Institut (AWI) seit Langem mit der Öko- logie der Kaltwasserkorallen in den chilenischen Fjordsystemen beschäftigt, bewarb ich mich erfolg- reich um ein DAAD-Stipendium. Als Doktorand am AWI lerne ich Menschen aus der ganzen Welt kennen und schließe Freundschaften. Insgesamt fördert ein gutes, internationales Arbeitsklima immer auch mul- tilaterale Partnerschaften und zukünftige wissen- schaftliche Kooperationen. Das AWI ist zwar eine der größten Forschungseinrichtungen in Deutschland, dennoch kennt man viele Kolleginnen und Kollegen gut – denn der interne Austausch ist wichtig und wird stark gefördert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen chilenischen und deutschen wissenschaftlichen Einrichtungen liegt sicherlich in den finanziellen Ressourcen, die ih- nen zur Verfügung stehen. Außerdem stelle ich in Deutschland fest, dass die Wissenschaft in Politik und Gesellschaft einen äußerst hohen Stellenwert hat – und das spiegelt sich wiederum in der Qualität der Forschung. Ich kann anderen Forschenden nur emp- fehlen, sich um einen Auslandsaufenthalt zu bemü- hen und den Austausch mit Kolleginnen und Kolle- gen in aller Welt zu suchen. Meine Erfahrungen in Deutschland helfen mir dabei, mich als Wissenschaft- ler zu etablieren, und vermitteln mir wichtige Kom- petenzen für die internationale Zusammenarbeit. THOMAS HERAN studierte Meeresbiologie an der Universidad Austral de Chile. An- schließend arbeitete er drei Jahre lang als wissenschaftlicher Assis- tent im chilenischen Teil Pata- goniens. Derzeit promoviert er am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresfor- schung in Bremerhaven. p ri v at LÄNDERPROFIL // 21 LÄNDERPROFIL // 21 CHILE CHILE p ri v at Mitreißende Dynamik Wieso eigentlich Chile? Oft werde ich gefragt, warum ich dieses Land für meinen Auslandsaufenthalt ausge- wählt habe. Schon immer begeisterte mich die Natur mit ihrer unbeschreiblichen Vielfalt und Weite. Auch die Geschichte des Landes, das manch- mal augenzwinkernd als Deutschland Südamerikas bezeichnet wird, fand ich sehr interessant und wollte mehr darüber erfahren. Wegen der pandemischen Si- tuation musste ich lange auf mein Visum warten, konnte aber bereits von Deutschland aus online un- terrichten. So lernte ich schon die Studierenden und dank ihnen auch das Land und die Stadt Concepción kennen, an deren Universität ich als DAAD-Sprachas- sistentin arbeite. Meine Kursteilnehmenden schwärmten von chilenischen Köstlichkeiten wie Ce- viche, Pisco Sour und den süßen Sopaipillas – und ich konnte meine Ausreise kaum erwarten. Als ich dann endlich im hochsommerlichen Santiago ankam, verliebte ich mich sofort in das Land. Die Hauptstadt ist riesengroß und hektisch, Concepción dagegen strahlte sofort Ruhe und Entschleunigung auf mich aus. Gleichzeitig spürt man hier eine mitreißende Dy- namik. Sobald das Semester beginnt, erwacht „Con- ce“ aus einem Sommerschlaf. Mehrere zehntausend Studierende kehren an die verschiedenen Hochschu- len zurück und erfüllen die Stadt mit Leben. Die Menschen genießen das große kulinarische und kul- turelle Angebot und immer wieder sieht man junge Leute, die stolz einen Pullover mit dem Schriftzug der Universidad de Concepción tragen. In meinen Kursen beobachte ich bei vielen Studieren- den eine große Motivation, Deutsch zu lernen. Trotz ihrer langen Tage an der Uni arbeiten sie begeistert mit und hören interessiert zu, wenn ich von meiner Heimat erzähle. Insgesamt ist der DaF-Bereich an der Universidad de Concepción sehr aktiv, oft kann ich bei der Durchführung von Tagungen und Veranstal- tungen unterstützen. Immer wieder fällt mir auf, dass sich die Menschen in Deutschland und Chile in ihrer Art ähnlich sind. Viele sind eher zurückhaltend und manchmal vielleicht ein bisschen reserviert. Dennoch fällt es in Concepción überhaupt nicht schwer, Leute kennenzulernen, und ich fühle mich hier schon fast wie zu Hause. ANDREA MARIA STRÖBEL unterrichtet 2021/2022 als DAAD- Sprachassistentin an der Universidad de Concepción. Zuvor stu- dierte sie Lehramt Mittelschule und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Regensburg.

Hohe Medienaffinität: Chilenische Studierende informieren sich vorrangig online und sind schnelle Rückmeldungen auf E-Mails gewohnt. LÄNDERPROFIL // 23 CHILE falls die politische oder religiöse Ausrichtung der Universität informieren. Der chilenische Hochschulsektor ist wenig reg- lementiert, deshalb fallen die Qualitätsunterschiede biswei- len deutlich aus. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Univer- sitäten, die Lehre und Forschung auf hohem Niveau anbieten und Kooperationsangebote aus zahlreichen Ländern bekom- men. Viele chilenische Universitäten führen ihre Partnerschaften auf ihrer Website unter dem Stichwort Relaciones Internacio- nales auf. Deutsche Hochschulen können sich so einen guten ersten Überblick der internationalen Kooperationserfahrun- gen einzelner Hochschulen verschaffen. Bestehen noch keine fachlichen Kontakte zu einer bestimmten Abteilung, kann über das International Office der entsprechenden Universität angefragt, das Alumni-Netzwerk genutzt oder im DAAD-In- formationszentrum Santiago de Chile Unterstützung einge- holt werden. Die Strukturen an chilenischen Universitäten sind generell recht hierarchisch. Außerdem gibt es eine hohe Fluktuation auf bestimmten Positionen. Bei einer Kooperationsanbah- nung sollten deutsche Hochschulvertretende deshalb die ent- sprechende Entscheidungsebene (Dekanat und Leitung des akademischen Auslandsamtes) einbeziehen und mehrere Per- sonen einbinden. Ebenso wie Studieninteressierte erwarten auch chilenische Hochschulangehörige oft eine schnelle Rück- meldung auf ihre E-Mails sowie englischsprachige Internetsei- ten, auch wenn chilenische Universitäten diese selbst nicht immer vorweisen können. ERFOLGREICHE ZUSAMMENARBEIT Anfang 2022 bestanden laut Hochschulkompass der HRK 328 Kooperationen zwischen deutschen und chilenischen Hoch- schulen. Auf dem südamerikanischen Kontinent steht das Land damit als Hochschulpartner für Deutschland an zweiter Stelle nach Brasilien. Ein herausragendes Beispiel für langjäh- rige akademische Zusammenarbeit ist das Heidelberg Center Lateinamerika der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (sie- he Interview auf Seite 17) in Santiago de Chile. Es bietet ge- meinsam mit renommierten lateinamerikanischen Universitä- ten internationale und interdisziplinäre Masterstudiengänge an. Als erstes und bisher einziges Postgraduiertenzentrum ei- ner deutschen Universität in Lateinamerika hat es über die Grenzen Chiles hinaus an Bekanntheit gewonnen. Potenzial für weitere Kooperationen mit Chile bietet sich ins- besondere auch für deutsche Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Praxiserfahrung ist auf dem chilenischen Arbeitsmarkt zwar sehr gefragt, wird im Rahmen des Studi- ums aber bisher kaum vermittelt. Das Interesse chilenischer Universitäten, dies zu ändern und enger mit der Wirtschaft zu kooperieren, ist vor allem in den Ingenieurwissenschaften groß und nimmt auch in anderen Fächern zu. // k c o t S e b o d A / ! k o o L bei ihren Familien wohnen, haben sie in der eigenständigen Unterkunftssuche oft recht wenig Erfahrung. Hier Unterstüt- zung oder sogar Wohnheimplätze anzubieten, kann für deut- sche Hochschulen ein entscheidender Pluspunkt sein. Auch ein Buddy-Programm erleichtert in vielen Fällen den Start und kann insbesondere Eltern überzeugen. Um chilenischen Studieninteressierten diese Informationen zu vermitteln und sie für die eigene Einrichtung zu gewinnen, ist eine gut strukturierte Hochschul-Website samt englisch- sprachiger Unterseiten ein wichtiger Ausgangspunkt. Angebo- te wie virtuelle Sprechstunden können zudem hilfreich sein, um eine persönliche Beratung zu ermöglichen. Vor allem junge Menschen in Chile sind sehr medienaffin. Werbung für Studienangebote auf Instagram oder TikTok er- zielt oft eine hohe Reichweite. Hier sind insbesondere Testimo- nials anderer chilenischer Studierender in Deutschland erfolg- versprechend, die authentisch über ihre positiven Erfahrungen berichten. VIELFÄLTIGE STÄRKEN Kooperationen mit chilenischen Universitäten können für deutsche Hochschulen in vielerlei Hinsicht attraktiv sein. Das Land bietet unter anderem aufgrund seiner Geografie For- schenden aus aller Welt hervorragende Bedingungen: Die Atacama-Wüste ist die wohl trockenste Wüste der Welt, in den Anden werden außergewöhnliche medizinische Projekte unter Höhenbedingungen durchgeführt, zudem befinden sich zahlreiche Großsternwarten in Chile. Insbesondere in den In- genieur- und Naturwissenschaften verfügen mehrere Univer- sitäten über exzellentes Personal und hochwertige Ausstat- tung. Dies gilt vor allem für Bereiche wie Bergbau, Solarenergie, erneuerbare Energien, Geo- und Umweltwissenschaften, Kli- maforschung, Biotechnologie, Agrar- und Forstwissenschaf- ten sowie Aquakultur. Deutsche Hochschulen, die sich für eine Zusammenarbeit in diesen oder anderen Feldern interessieren, sollten sich vorab über den Ruf, den Akkreditierungsstatus sowie gegebenen-

f i a l / x u d e R / 5 1 0 2 s o l l i c e l l a V s a c u L LÄNDERPROFIL // 25 CHILE Internationales Zentrum für Astronomie: In Chile stehen einige der größten Teleskope der Welt. noch nicht vollständig durch andere Quellen ausgeglichen werden. Die vorherige Regierung unter Sebastián Piñera rich- tete zwar ein neues Wissenschaftsministerium ein, kürzte aufgrund der wirtschaftlichen Krise infolge der Pandemie je- doch auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Un- ter anderem wurde das staatliche Stipendienprogramm der ANID für Master- und Promotionsstudien im Ausland ausge- setzt. Dies führte innerhalb der Studierenden- und For- schungsgemeinschaft zu heftiger Kritik. Lithiumreserven, an denen unter anderem die Autoindustrie für die Produktion von Elektroautos interessiert ist. Das Lithi- um wird aus salzhaltigem Wasser unter der Wüstenerde hoch- gepumpt. Aufgrund der mangelnden staatlichen Finanzie- rung gibt es kaum unabhängige wissenschaftliche Studien über die Wassermenge, die zur Lithiumgewinnung verbraucht wird, und über die Auswirkungen auf das Ökosystem. Die meisten Studien werden von den Bergbaukonzernen selbst in Auftrag gegeben. Die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung lie- gen in Chile mit 0,4 Prozent des BIP weit unter dem lateiname- rikanischen Durchschnitt und derzeit auf dem vorletzten Platz der OECD-Länder. Fast 50 Prozent der Finanzierungsquellen für Forschung und Entwicklung kommen vom Staat, 15 Pro- zent von Hochschulen. Der private Sektor ist mit etwas mehr als 30 Prozent hingegen weniger aktiv. Besonders hohe Finan- zierungsanteile von Unternehmen sind im Bereich Innovation und Entwicklung im Bergbau und in der Landwirtschaftsin- dustrie zu finden. Die Unternehmen werden dabei durch staat- liche Zuschüsse großzügig gefördert und genießen Steuer- erleichterungen. HOFFNUNG AUF FORSCHUNGSPOLITISCHEN WANDEL Der im März 2022 angetretene Präsident Gabriel Boric will die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf ein Prozent des BIP erhöhen. Zudem erhoffen sich viele von der Verfassungsreform eine Stärkung des öffentlichen Bildungs- systems und eine Erhöhung der staatlichen Finanzierung von Wissenschaft und Forschung. In den Konvent zur Ausarbei- tung der neuen Verfassung wurden auch Forschende gewählt. Eine von ihnen ist die Mikrobiologin Cristina Dorador. Sie hat an der Universität Kiel promoviert und forscht an der Univer- sidad de Antofagasta an Mikroorganismen in den Salzseen der Atacama-Wüste. Dort befinden sich die weltweit größten Eine der wenigen unabhängigen Expertinnen und Experten auf diesem Gebiet ist Cristina Dorador. „Durch den Abbau von Sole, wie er in den vergangenen zehn bis 20 Jahren stattgefun- den hat, wurde die Menge an Mikroorganismen reduziert und das Ökosystem beeinträchtigt“, sagt die Forscherin. Im Verfas- sungskonvent setzt sie sich für mehr staatliche Investitionen in Wissenschaft und Forschung ein, insbesondere in den Regi- onen Chiles außerhalb der Hauptstadt. Denn die Forschungs- landschaft in Chile ist stark zentralisiert. Die renommierten Universitäten und Forschungszentren befinden sich größten- teils in der Hauptstadt. Doch insbesondere in den Regionen werden Forschende gebraucht, so Dorador, weil dort der Extraktivismus, also die Ausbeutung von Rohstoffen, stattfinde. „Es werden zuverlässige Informationen benö- tigt, damit die Regierung oder die Gerichte Entscheidungen treffen können“, sagt Dora- dor. Auch Alejandro Rojas erhofft sich in Zu- kunft mehr staatliche Finanzierung von Wis- senschaft und Technologie. Seine Forschung über die Alpaka-Antikörper hat bisher keine Unterstützung vom Wissenschaftsministeri- um erhalten. „Aber ich habe große Hoffnung, dass es in Zukunft Veränderungen geben wird“, so Rojas. // Chile. p rivat AUTORIN SOPHIA BODDENBERG berichtet als freie Journa- listin für deutschsprachi- ge Medien wie Spiegel Online, ZEIT Online, Deutsche Welle und Deutschlandfunk aus

e l i h C r e f o h n u a r F Deutschsprachige Lehrerbildung Die 25 PASCH-Schulen in Chile sind sehr gefragt. Entsprechend groß ist ihr Bedarf an pädagogischen Fachkräften mit Deutschkenntnissen. Die Escuela de Pedagogías en Alemán, seit 2015 Teil der Universidad de Talca in Santiago, bildet in drei bilingualen Studien- gängen Grundschul- und Oberstufenlehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher aus. Mit den Pädagogischen Hochschulen (PH) in Heidel- berg, Freiburg und Weingarten pflegt das Institut ei- nen langjährigen Austausch von Studierenden und Lehrenden. „Alle unsere Studierenden gehen für zwei Monate an die PH Heidelberg und hospitieren in die- sem Zeitraum auch an einer Schule“, sagt Dr. Jochen Fritz, Leiter der Escuela de Pedagogías en Alemán und Generaldirektor der Deutsch-Chilenischen Stiftung für Hochschulbildung. Sechs bis zehn Studierende pro Jahr verbringen ein ganzes Semester in Baden-Würt- temberg. Im Gegenzug kommen deutsche Studieren- de nach Santiago. „Weil wir deutschsprachige Vorle- sungen und Seminare anbieten, ist der Austausch auch für diejenigen attraktiv, die nicht perfekt Spanisch sprechen“, meint Fritz. Die an den Partner- hochschulen erbrachten Studienleistungen werden gegenseitig vollständig anerkannt. Die Tradition der deutschsprachigen Lehrerbildung in Chile reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. 1988 wur- de das Deutsche Lehrerbildungsinstitut Wilhelm von Humboldt (LBI) gegründet, aus dem 2015 die Escuela de Pedagogías en Alemán hervorging. Wie schon das LBI wird sie personell und finanziell von der Zentral- stelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) unterstützt. Auch eine Lektorin und eine Sprachassistentin des DAAD sind derzeit an der Escuela de Pedagogías en Alemán tätig. „Die Unterstützung aus Deutschland hilft unserer Arbeit sehr“, sagt Fritz. Nach wie vor gebe es in Chile eine sehr hohe Wertschätzung für die deutsche Sprache und Kultur: „Viele Menschen haben Großeltern aus Einwandererfamilien, die in der Kind- heit noch Deutsch gesprochen haben.“ Als zweite Fremdsprache neben Englisch gelte Deutsch heute als wertvolle Zusatzqualifikation. www.pedagogiasenaleman.utalca.cl p riv at LÄNDERPROFIL // 27 CHILE Sonnenkraft im Überfluss: In Chile sind die Bedingungen für Photo- voltaik und Solarthermie herausragend. Die Fraunhofer Chile Research Foundation unterstützt den Ausbau der Solarenergie in unterschiedlichen Forschungsprojekten. Brücken zwischen Hochschulen und Industrie Das Potenzial für Solarenergie ist in Chile riesig: Durch Photovoltaik und solarther- mische Kraftwerke könnten dort bis zu 1.500 Gigawatt Strom pro Jahr erzeugt wer- den. Zum Vergleich: Die jährliche Gesamtleistung aller deutschen Kraftwerke liegt aktuell bei etwa 220 Gigawatt. „Mit unserer Erfahrung wollen wir die Entwicklung einer nachhaltigen Solarwirtschaft in Chile unterstützen und Brücken zwischen Hochschulen und Betrieben schlagen“, sagt Professor Frank Dinter, Leiter des Fraun- hofer Chile Research Center for Solar Energy Technologies (FCR-CSET). So wurden etwa drei Demonstrationsanlagen zur Agri-Photovoltaik im Großraum Santiago de Chile installiert. „Landwirtschaftlichen Betrieben zeigen wir, wie sie Flächen doppelt nutzen können: Am Boden wachsen Gemüse- und Obstsorten, in vier Metern Höhe sind Solarmodule zur Stromerzeugung installiert. Die Verschattung verhindert im Nebeneffekt Ernteschäden durch direkte Sonneneinstrahlung und verringert die Wasserverdunstung“, so Dinter. Die Daten aus dem Betrieb der Demonstrationsan- lagen wertet das CSET gemeinsam mit der Universidad de Chile aus. Zudem ist das Center Mitglied im Solar Energy Research Center Chile, in dem sechs chilenische Hochschulen gemeinsam zu Solarenergie forschen. „Wir sind ein relativ kleines Forschungsteam und brauchen die Zusammenarbeit mit Hochschulpart- nern“, sagt Dinter. Von der Technischen Hochschule Nürnberg und anderen deut- schen Hochschulen kämen regelmäßig Studierende und Promovierende zu For- schungs- oder Praktikumsaufenthalten ans CSET: „Um bei uns schnell ins Geschehen einsteigen zu können, sollte man allerdings Spanischkenntnisse auf B1-Niveau mitbringen.“ Die Fraunhofer Chile Research Foundation entstand 2010 aufgrund einer Initiative der chilenischen Regierung zur Gründung internationaler Exzellenzzentren. Zu- nächst wurde ein Center for Systems Biotechnology (CSB) gegründet, 2015 kam das Center for Solar Energy Technologies hinzu. Seit das CSB im Jahr 2021 an die Univer- sidad Andrés Bello in Santiago de Chile transferiert wurde, konzentriert sich Fraun- hofer Chile allein auf Solarenergiethemen. Derzeit plant das CSET für einen großen chilenischen Düngemittelhersteller eine Demonstrationsanlage für den Einsatz solarthermischer Energie in der Produktion. Eine Reihe weiterer Projekte mit Hoch- schulpartnern ist vorgesehen, unter anderem zur Herstellung von solarem Wasser- stoff und Wasserstoffderivaten. www.fraunhofer.cl

Zeitzeugenarchiv In der Colonia Dignidad, der Siedlung einer deut- schen Sekte im Süden Chiles, wurden zwischen 1961 und 2005 die Mitglieder und ihre Kinder isoliert, aus- gebeutet und sexuell missbraucht. Während der Mi- litärdiktatur von 1973 bis 1990 wurden auf dem Ge- lände auch chilenische Oppositionelle gefoltert und ermordet. 2017 beschloss der Deutsche Bundestag, dass die Geschichte der Colonia Dignidad aufgear- beitet werden soll. In diesem Zusammenhang steht das vom Auswärtigen Amt geförderte Projekt „Colo- nia Dignidad, ein chilenisch-deutsches Oral History- Archiv“ der Freien Universität Berlin. Für den Aufbau des digitalen Archivs wurden ab 2019 insgesamt 64 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen Be- wohnerinnen und Bewohnern, überlebenden Gefan- genen, Angehörigen von Verschwundenen, Opfern von Missbrauch sowie weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt. Bei der Konzeption arbeitete die FU Berlin eng mit der Universidad Alberto Hurtado in Santiago de Chile und der Universidad Católica del Maule in Talca zusammen. „Gemeinsam mit der Uni- versidad Alberto Hurtado haben wir auch ein psy- chologisches Beratungsangebot für Betroffene ent- wickelt, um einer möglichen Retraumatisierung durch die Interviews vorzubeugen“, sagt der Projekt- koordinator Philipp Kandler vom Lateinamerika-Ins- titut der FU Berlin. Für die technische Entwicklung und Umsetzung waren Mitarbeitende der Digitalen Interview-Sammlungen des Centers für Digitale Sys- teme der FU verantwortlich. Seit März 2022 steht der Zugang zu den transkribier- ten, übersetzten und durch ein Glossar ergänzten Interviews allen Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlern offen. Das Forschungsinteresse an der Co- lonia Dignidad sei aktuell sowohl in Chile als auch in Deutschland sehr groß, sagt Kandler. Das Projekt verfolge aber auch ein anderes Ziel: „Für die Betrof- fenen war es wichtig, ihre Geschichte zu erzählen, damit sie für die Nachwelt bewahrt wird und ihre Forderungen gehört werden.“ www.cdoh.net H O D y ola B a hrs, Cájas González/C o L LÄNDERPROFIL // 29 CHILE Der chilenische Kupferbergbau ist ein wichtiger Energie- und Wirtschaftsfaktor. Deutsch-chilenische Forschungsprojekte untersuchen um- weltfreundliche Verfahren der Kupfergewinnung. t a v i r p Neue Bergbautechnologien Chile ist der größte Kupferproduzent der Welt. „Kupfer ist für die Energiewende enorm wichtig, da es beim Bau von Solaranlagen und Elektroautos benötigt wird“, sagt Professor Michael Schlömann von der Technischen Universität Bergakademie Freiberg (TUBAF), die ihre langjährige Zusammenarbeit mit chilenischen Hochschulen in den vergangenen zehn Jahren weiter verstärkt hat. Eine Initiative der chilenischen Botschaft in Deutschland führ- te 2012 zu einer Vereinbarung mit der Technischen Hochschule Georg Agricola Bochum, der Universidad de Concepción, der Universidad de Atacama und der Universidad Católica del Norte über gemeinsame Aktivitäten zur Ausbildung von Fachkräften für den Kupfer- bergbau. In der Folge unternahmen chilenische Fachkräfte Exkursionen an die TUBAF und zu deutschen Maschinenbauern. Im Mittelpunkt aktueller Forschungsprojekte mit der Pontificia Universidad Católica de Chile, der Universidad de Santiago de Chile und der Universidad de Concepción stehen umweltfreundlichere Verfahren zur Kupfergewinnung. „Weil immer tiefer gegraben wird, werden vermehrt arsenhaltige Kupfererze gefördert“, erläutert Schlömann: „Wir untersu- chen, wie sich das Arsen abtrennen und in sicherer Form binden lässt, damit es nicht in die Flüsse oder die Luft entweicht.“ In einem weiteren Kooperationsprojekt entwickeln und erproben die Partner neue Verfahren zur Biolaugung von Chalkopyrit, dem wichtigsten Kupfermineral Chiles. Beide Projekte werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Mit der Universidad de Santiago de Chile hat die TUBAF seit 2017 ein Doppelpromotionsabkommen. „Wir haben immer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Promovierende und Studierende aus Chile bei uns“, erzählt Schlömann. Um die Gäste unterzubringen, eröffnete die Hochschule 2017 das Chile-Haus-Freiberg, das von Dr. Erika Krüger, Vorsitzende der Dr. Erich-Krüger-Stiftung, finanziert wurde. Die TUBAF ist auch Mitglied im deutsch-chilenischen Netzwerk Eco Mining Concepts der AHK Chile, das sich für eine nachhaltigere Rohstoffgewinnung einsetzt. 2019 fand eine erste Tagung in Freiberg statt. Über das Netzwerk könne die Hochschule Kontakte zur chilenischen Bergbauindustrie knüpfen, sagt Schlömann: „Das bietet uns die Chance, den Unternehmen unsere Ideen und Techniken für eine umweltfreundlichere Förderung zu präsentieren.“ www.tu-freiberg.de/international www.ecominingconcepts.cl

IM FOKUS Eine Auswahl deutscher und deutsch-chilenischer Einrichtungen und Ansprechpersonen LÄNDERPROFIL // 31 CHILE 4 3 1 2 1 1 2 1 1 2 3 2 1 4 1 2 Valparaíso 6 2 Concepción 2 2 5 Santiago de Chile 2 Talca Valdivia DAAD 1 Informationszentrum 2 Lektorate Wissenschaft 1 Fraunhofer Chile Research Wirtschaft 2 Heidelberg Center Lateinamerika (HCLA) 1 Deutsch-Chilenische Industrie- und Handelskammer / AHK Chile Bildung 1 Zentralstelle für das Auslandsschulwesen 2 Deutsche Schule Concepción 2 Germany Trade and Invest Kultur 1 Deutsch-Chilenische Wochenzeitung Cóndor 3 Deutsche Schule Sankt Thomas Morus Santiago 2 Goethe-Institut Chile 4 Deutsche Schule Santiago 5 Deutsche Schule Valdivia 6 Deutsche Schule Valparaíso Deutsche Auslandsvertretung 1 Deutsche Botschaft Deutsche Stiftungen 1 Friedrich-Ebert-Stiftung 2 Hanns-Seidel-Stiftung 3 Heinrich-Böll-Stiftung 4 Konrad-Adenauer-Stiftung k c o t S e b o d A