Virtuelle Hochschule: Entscheidend ist das "Wir-Gefühl"
Autorin: Gunda Achterhold (Mai 2023)
Virtuelle Mobilitätsoptionen für Studierende sind in vielen Bereichen sinnvoll und dringend notwendig. Digitale Lehr- und Lernformen erweitern die Möglichkeiten internationaler Studienerfahrungen ebenso wie in der internationalen Zusammenarbeit von Hochschulen. In Partnerschaften und Netzwerken werden sie bereits strategisch gefördert.
Während der pandemiebedingte Verzicht auf persönliche Begegnungen an deutschen Hochschulen teils enorme Kreativität im Umgang mit digitalen Instrumenten in der Lehre freisetzte, ist aktuell jedoch eine ausgeprägte Sehnsucht nach vollständiger Rückkehr zur Präsenz zu beobachten: Die meisten Veranstaltungen an deutschen Hochschulen fänden inzwischen wieder in Präsenz statt, stellt die jüngst vom Hochschulforum Digitalisierung (HFD) veröffentlichte Studie Monitor Digitalisierung 360° fest. Zwar sei im Zeitverlauf eine schleichende Entwicklung hin zu einer Anreicherung der Präsenz mit digitalen Medien, Mischformaten (Blended Learning), reinen Onlineformaten und hybrider Lehre beobachtbar, jedoch habe rund die Hälfte aller befragten Lehrenden Seminare, Tutorien oder Colloquia im Sommersemester 2022 ausschließlich vor Ort auf dem Campus angeboten. Nur acht Prozent der Lehrenden hätten auch Online-Seminare gegeben.
Die Frage, ob und wie Hochschulen virtuelle Lehre dauerhaft und strukturell in Curricula, Veranstaltungen und im internationalen Studierendenmarketing verankern sollten, bleibt also aktuell und wird hochschulintern durchaus kontrovers diskutiert. Maßgeblich geprägt von subjektiven Erfahrungen während der ersten Corona-Semester, sehen viele Hochschulmitarbeitende und Studierende virtuelle Lehre mit gemischten Gefühlen. Oft wird argumentiert, digitale Formate brächten eine Entfremdung mit sich, die die Qualität zwischenmenschlicher Begegnungen und damit letztlich auch den Erfolg von Lern- und Lehrszenarien gefährde. Der gewisse “Funke” springe im virtuellen Raum oft nicht über.
Wie kann es unter diesen Voraussetzungen gelingen, die digitale Transformation in den Hochschulen, wie vom Wissenschaftsrat dringend gefordert, konsequent weiter voranzutreiben und proaktiv und hochklassig auszugestalten?
Emergency Remote Teaching – ein Sprung ins kalte Wasser
Mit dem Ausbruch der Pandemie wurden Lehrveranstaltungen an Präsenzhochschulen innerhalb kürzester Zeit von Präsenz in ein rein virtuelles Setting verlegt. Viele Beteiligte traf dieser Systemwechsel unvorbereitet, er wurde als tiefer Einschnitt erlebt. Wie gut es gelungen ist, den Hochschulbetrieb auch in Zeiten der Pandemie am Laufen zu halten, erzeugte in allen Bereichen des Hochschulwesens jedoch auch Zufriedenheit und Stolz. “Es hat an vielen Stellen erstaunlich gut geklappt”, sagt Dr. Angelika Thielsch, Mitarbeiterin für Hochschuldidaktik an der Georg-August-Universität Göttingen. Bei der Umstellung der Lehre auf Online seien Präsenzkonzepte jedoch oft einfach übertragen worden, ohne das Lehrkonzept an ein virtuelles Setting anzugleichen. In der akuten Krise sei es vor allem auf Eigeninitiative angekommen, und es musste schnell gehen. Mediendidaktisch sinnvolle Lehrdesigns wurden eher selten ausgearbeitet, teils aufgrund mangelnder Ressourcen, teils fehlte Lehrenden das entsprechende Wissen.
In diesem Kontext wurde der Begriff des “Emergency Remote Teaching“, kurz ERT, geprägt. “Die Pandemie sollte uns daher auch eine Mahnung sein. Das, was viele in dieser Phase an Erfahrungen gemacht haben, ist eben nicht das, was gute Online-Lehre auf Distanz eigentlich ermöglichen kann”, betont Thielsch. Die negativen, auch als belastend erlebten Erfahrungen sind aus ihrer Sicht ein wesentlicher Grund dafür, dass die Debatte um eine strukturell verankerte Online-Lehre so emotional geführt wird. “Lehrende rangen in Videokonferenzen mit dem Eindruck, zu wenig Rückmeldungen zu erhalten und zu einer anonymen Masse zu sprechen, während es Studierenden oft schwerfiel, in einer gefühlt unbekannten Gruppe das Wort zu ergreifen und mit eigenen Beiträgen sichtbar zu werden.”
Emotionen und Stimmungen sind ein nicht zu unterschätzender Faktor im Diskurs um eine digitale Transformation von Lehr- und Lernszenarien. Er beeinflusst wesentlich, ob ein zwischenmenschlicher Austausch als nachhaltig und gewinnbringend empfunden wird. Negative Emotionen können innere Abwehrmechanismen in Gang setzen und so die Akzeptanz, Lernfreude und Kreativität aller Beteiligten blockieren. Der Soziologe Hartmut Rosa weist in seiner “Resonanztheorie” darauf hin, dass das Leben in einer durch digitale Technik geprägten Welt die Resonanzen zwischen Menschen erschwert. Dabei ist seine Sicht nicht einseitig: “Die Prozesse und Möglichkeiten der Digitalisierung unserer Lebenswelt eröffnen ohne Zweifel zugleich viele neue Chancen und Opportunitäten und sogar neue Modi, mit der Welt in Resonanz zu treten oder zu bleiben”, schreibt der Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt in einem Geleitwort zu dem Sammelband “Resonanz und Lebensqualität”. Demnach hängt die Lebensqualität davon ab, wie es einem Menschen gelingt, Resonanzen zur Um- und Mitwelt zu erschließen.
Ein gutes Klima entsteht auch im Hörsaal nicht von selbst
Dr. Angelika Thielsch, Georg-August-Universität GöttingenDen Beteiligten einen Zugang zu einem Miteinander zu geben, ist für mich der Schlüssel zu virtueller Mobilität. Der Funke springt dann über, wenn ein Wir-Gefühl entsteht.
Hier setzt ein Modell zur Analyse von Begegnungsprozessen in der Online-Lehre an. In ihrem Beitrag “Durch Reflexion zu mehr sozialem Miteinander” richtet Angelika Thielsch den Blick auf lernbezogene, technologisch gestützte Begegnungsprozesse und entwickelt ein Modell, das es Lehrenden bereits in der Planung ermöglicht, Studierende zu involvieren und zur Interaktion zu ermuntern. “Lehre ist vor allem Beziehungsarbeit”, sagt Thielsch. Studien belegten, dass Studierende in der Corona-bedingten Online-Lehre insbesondere den sozialen Kontakt mit Peers und Lehrpersonen vermissten. Ihr Reflexionsmodell ist darauf angelegt, die in der Online-Lehre gefühlte soziale Distanz zwischen den Beteiligten zu verringern.
Als Grundlage zur Gestaltung guter Online-Lehre identifiziert die Wissenschaftlerin drei Fragen: Wie kommen Studierende mit dem Lerninhalt in Kontakt, wie mit ihren Peers und wie mit der Lehrperson selbst. Im Vergleich zur Präsenzlehre müsse diese Beziehung in einem Online-Setting deutlich aktiver hergestellt werden, über eine kurze Abstimmung zum Einstieg in eine Veranstaltung beispielsweise oder eine Aufforderung zu konkretem Feedback per Chat zum Abschluss. “Ein ‘Habt ihr Fragen?’ reicht da nicht.” Die Freude über das Zurück zur Präsenzuniversität kann die Bildungspädagogin nachvollziehen, “an einigen Stellen teile ich sie auch”. Eine positive Lernatmosphäre entwickle sich jedoch auch in Präsenz nicht automatisch.
Was gute Online-Veranstaltungen ausmache, lasse sich am Beispiel von Collaborative Online International Learning-Projekten (COIL) sehr gut beobachten, so Thielsch. Die Online-Lehre sei schließlich nicht erst mit der Pandemie erfunden worden. “Es gibt viele tolle Beispiele dafür, wie Lehrende eben nicht in einem ERT landen, sondern digitale Formate nutzen, um starre Strukturen wie die 90-Minuten-Vorlesung aufzubrechen und aktives Lernen zu fördern.” Beispielsweise im oft genutzten Inverted Classroom-Modell. Videos, Podcasts oder digitale Skripte ermöglichten eine intensive Auseinandersetzung mit dem Stoff zu Hause, im eigenen Tempo. “Auch als Vorbereitung auf Präsenzveranstaltungen sind diese Methoden inzwischen sehr beliebt.” Gemeinsame Phasen, ob im Hörsaal oder digital, werden anschließend zur interaktiven Vertiefung genutzt, über Diskussionen oder Gruppenarbeiten beispielsweise. COIL-Projekte sind ebenfalls im Blended Learning-Format angelegt und verbinden in Hochschulpartnerschaften Phasen virtueller Mobilität mit gegenseitigen Besuchen an den Hochschulstandorten.
VR als ein immersives Lernformat
Die Zukunftstechnologie Virtual Reality (VR) eröffnet im Hinblick auf virtuelle Mobilitäten noch einmal weitergehende Möglichkeiten. Das Eintauchen in eine computergeschaffene Welt spricht mehrere Sinne gleichzeitig an und ermöglicht dadurch emotionalere, tiefere Erlebnisse als andere Technologien. Die Chancen dieses sogenannten immersiven Erlebens werden nicht nur im Hochschulmarketing zunehmend gesehen. An der Universität Potsdam wurden Lehramtsstudierende am Institut für Umweltwissenschaften und Geografie selbst zu Designern einer fachgeografisch anspruchsvollen VR-Umgebung. Im Rahmen einer Exkursion zu nachhaltiger, grüner und smarter Stadtentwicklung erkundeten sie zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln die Wiener Innenstadt. Als Verkehrsteilnehmende waren sie an stark befahrenen Straßen und Kreuzungen unterwegs, bahnten sich ihren Weg an Absperrgittern vorbei und folgten Einheimischen auf Trampelpfaden. Sie machten 360-Grad-Aufnahmen und erarbeiteten auf Grundlage ihrer Erkenntnisse eine VR-Exkursion, die Verkehrsströme einer Großstadt wie Wien hautnah erfahrbar macht.
Dr. Katharina Mohring, Universität PotsdamMan braucht auch Konzepte, um das in der VR individuell Erlebte im Anschluss gemeinsam aufzuarbeiten. So kann es zu einem Gruppenthema werden und dazu beitragen, das Gruppengefühl zu stärken.
“Wir waren sechs Tage vor Ort, die Resonanz der Studierenden war unglaublich gut”, berichtet Dr. Katharina Mohring, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Angewandte Humangeografie und Regionalwissenschaften. “Virtual Reality ist eine sehr körpernahe Erfahrung”, sagt sie und verweist auf ein Zitat des Stanford-Professors Jeremy Ballenson: “In VR, content that moves the body will also move the mind.” VR verbessere die Qualität der Diskussionen, beobachtet die Dozentin. “Über das gemeinsam Erlebte zu sprechen und dabei die Unterschiede in der Wahrnehmung festzustellen, setzt Erkenntnisprozesse in Gang.” Sie spricht von “Wow-Effekten”, beispielsweise im Zusammenhang mit körperlichen Bedürfnissen. “Wenn man in einer klassischen autozentrierten Stadtszene selbst spürt, wie nah der Verkehr an einem vorbeirauscht und wo Hindernisse auftauchen, lernt man viel über sich selbst, aber auch über die Umgebung, in der man leben möchte.” Ziel der explorativen Studie sei es, die Potenziale, Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren für geografische Vermittlung mittels VR zu diskutieren und ein fachlich-didaktisches Konzept zur Kompetenzförderung durch VR in geografischen Lernsettings zu erarbeiten. Die Studierenden der Universität Potsdam kamen über diesen Ansatz in intensive Diskussionen über Städte und ihre Zukunft.
Zu einer ähnlich positiven Einschätzung kommt auch Birgit Michels, die sich als Referentin der Geschäftsstelle GATE–Germany im DAAD mit dem Potenzial von VR-Technologien für virtuelle Mobilität und das internationale Hochschulmarketing beschäftigt. “VR-Technologien können den virtuelle Studierendenaustausch auf eine neue Ebene heben, weil sie Resonanzerfahrungen schaffen. Das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, in der man sich fühlt, als wäre man tatsächlich an einem anderen Ort, schafft ein Gefühl menschlicher Verbundenheit, das mit anderen digitalen Technologien nur schwer hergestellt werden kann”, so Michels.
Gerade der Einsatz immersiver Technologien sei geeignet, um zwischenmenschliche Interaktion und das Engagement der Studierenden im virtuellen Raum zu fördern. Die vielen persönlichen Begegnungen und Erfahrungen eines Auslandsaufenthaltes könnten und sollten diese Technologien aber nicht ersetzen. Es gehe nicht um die Abschaffung, sondern um die Erweiterung physischer Mobilität, beispielsweise um diese vor- oder nachzubereiten und zu begleiten. Dies sei wichtig zu betonen, um Berührungsängste abzubauen und die Bereitschaft zum Ausprobieren dieser neuen Technologien zu steigern.
GATE–Germany sei es wichtig, die deutschen Hochschulen bei der Erschließung von VR-Technologien zu unterstützen. “Wenn sich Avatare von Lehrenden, Studierenden und Alumni künftig auch in virtuellen sozialen Räumen austauschen, voneinander lernen und zusammenarbeiten, entstehen neue Möglichkeiten, das Verständnis und die Wertschätzung anderer Kulturen und Perspektiven zu stärken und Kooperationen weltweit zu erleichtern – und das klimaschonend und mit großem Inklusionspotenzial”, betont Michels.
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